Die Linke, Israel und der “Holocaust” in Gaza

Die erwartete Reaktion der internationalen Linken auf Israels Offensive gegen die Hamas in Gaza blieb nicht aus. 1500 Menschen demonstrierten gestern vor der israelischen Botschaft in London gegen den »Holocaust« in Gaza, das Internet wird von E-Mails überschwemmt, die von einem »Genozid« reden und Mainstreammedien sprechen von einem israelischen »Blitzkrieg«. Mit Sicherheit haben auch schon einige Journalist_innen von einer »Endlösung« gesprochen, um das aktuelle Vorgehen Israels zu beschreiben. Bald werden ihnen vermutlich die Hitleranalogien ausgehen – was dann? Wird jemand das, was Israel tut, mit anderen Massenmorden vergleichen?


Mal kurz überlegen – ein erfolgversprechender Vergleich wäre der mit einem viel größeren (an Muslim_innen durchgeführten) Massaker. Zehntausend starben dabei im Jahre 1982, vielleicht auch doppelt so viele. Ich beziehe mich hier auf einen Massenmord in Hama, den der syrische Präsident Hafez-al-Assad an seinen Gegnern, der Muslim-Bruderschaft, begehen ließ. Es sei Ihnen verziehen, wenn Sie gerade dachten, ich redete von etwas, dass Israel im Libanon tat. Nein, die Linke wird sich in ihren Slogans wohl nicht auf Hama beziehen. Es würde Verwirrung stiften, auf Transparenten »Keine Hamas mehr!« zu lesen. Das könnte ja missverstanden werden…
Bei einem Vergleich von Israels Offensive gegen den palästinensischen Flügel der Muslimbruderschaft mit dem, was arabische Länder in ähnlichen Situationen getan haben, lässt sich sofort feststellen, dass Israel auf der »Massaker-Rangliste« ganz unten steht. Für die algerische und die ägyptische Armee wären die Zahlen der Getöteten in Gaza geradezu lächerlich: In ihren Kriegen gegen islamistische Extremist_innen haben sie wesentlich mehr Menschen getötet. So sind allein im ersten Jahrzehnt des jüngsten algerischen Bürgerkriegs geschätzte 160.000 Menschen getötet worden. Erinnert sich irgendjemand an militante linke Demonstrant_innen vor der algerischen Botschaft in London? Oder Transparente, die die algerischen Führungskräfte mit den Nazis verglichen hätten? Oder dass diese Vorgänge mit dem Begriff »Holocaust« belegt worden wären?
Kritiker_innen Israels stöhnen und beschweren sich, dass Israel eine demokratisch gewählte Regierung eines benachbarten Staats stürzen will. Dabei tat die algerische Armee etwas viel Schlimmeres: sie putschte gegen die demokratisch gewählte Regierung im eigenen Land. Der Unterschied zwischen dem was Israel und dem was Assad in Hama oder die algerische Armee in einem Jahrzehnt des Kampfs gegen islamistische Fundamentalist_innen getan haben, ist keiner bei dem es um Opferzahlen geht. Die hunderten toten Kämpfer der Hamas und die, die Assad töten ließ, waren mit Sicherheit Waffenbrüder. Es sind nicht unbedingt besondere Sympathien, die säkulare Linke für islamistischen Fundamentalismus hegen, wenn sie in Orten wie London auf die Straßen gehen. Es geht nicht um die Opfer – kein Mensch interessiert sich für die Opfer. Es zählt nur wer tötet. Was einen großen Teil der Linken so erzürnt ist, dass Israel einen minimalen Teil seiner militärischen Macht benutzt, um seine Feinde davon abzuhalten, Raketen auf israelische Zivilist_innen zu feuern.
Ich will diese Formulierung weiter ausführen: einen »minimalen Teil seiner militärischen Macht«:
Wenn Israel wirklich so viele Palästinenser_innen wie möglich töten wollte, also wirklich auf Genozid aus wäre, wären nicht nur einige hundert Tote zu beklagen. Die Zahlen wären um einiges höher – in der Größenordnung der Massaker Assads in Syrien, denen der algerischen Generäle, oder sogar denen des Lieblings der Linken, Saddam Hussein. Was die Linke hier interessiert, ist nicht die Zahl der Toten – bereits ein einziger Hamas-Kämpfer würde sie aufschreien lassen. Und 10.000 tote Islamist_innen in Syrien sind es nicht einmal wert, erwähnt zu werden, nicht einmal um eine Analogie zu ziehen. Die Linke ist gegen Israel, aus Prinzip, egal was es tut um sich zu verteidigen. Würde man eine_n Demonstrant_in danach fragen, wie Israel sich denn eigentlich verteidigen solle, würde man nicht einen praktikablen Vorschlag erhalten und höchstens Sprachlosigkeit ernten. Nur die etwas Schlaueren würden davon reden, dass man das zugrunde liegende Problem – die »Besatzung« – lösen müsse.
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem, was die moderate Mainstream-Linke im Westen meint, wenn sie von »Besatzung« spricht und was die Hamas meint, wenn sie von »Besatzung« spricht: Ein Hamas-Sprecher erklärte am ersten Tag der Offensive auf BBC, dass das palästinensiche Volk das Recht habe sich selbst zu verteidigen, nachdem es 60 Jahre unter einer Besatzung gelebt habe. Vernachlässigen wir für einen Moment, dass Gaza im Jahr 2005 von Israel geräumt wurde (man muss diesen Umstand völlig ignorieren, will man das »Leiden« der Palästinenser_innen verstehen).
Betrachten wir die Dauer der »Bestzung«: Seit dem Juni 1967 leben die Palästinenser_innen aus Gaza, Westbank, Golan und zeitweise Sinai unter israelischer Besatzung. Das wären allerdings nur 41 Jahre und nicht 60. Von 60 Jahren zu sprechen heißt, die Existenz Israels an sich als Besatzung wahrzunehmen. Selbst unter den derzeitigen verheerenden Luftangriffen ist für die strauchelnde Hamas-Führung die Existenz Israels nach wie vor das wichtigste Problem. Die Verteidiger_innen Israels weisen regelmäßig darauf hin, dass die Hamas – im Gegensatz zur PLO – niemals ihren grundsätzlichen Glauben an die Notwendigkeit der Zerstörung Israels aufgegeben hat. In pro-israelischen Publikationen finden sich wahrscheinlich mehr Verweise auf die Hamas-Charta als in denen der Hamas-Anhänger. In dieser Charta heißt es: »Israel wird solange existieren, bis der Islam es vernichtet.« (»Israel will exist and will continue to exist until Islam will obliterate it«) Das ist keine versteckte Aussage, die aus den Tiefen des Texts von Wissenschaftler_innen herausgekramt wurde. Es handelt sich nicht um eine Ergänzung oder Nachbemerkung, sondern sie ist gleich im zweiten Absatz der Hamas-Charta zu finden. Und wer denkt, dass die Hamas dies nicht wirklich so meint, es längst vergessen hat oder ihre Ansichten in den 26 Jahren, die seitdem diese Charta geschrieben wurde vergangen sind, geändert hat, sollte noch einmal genau hinhören, wenn der Sprecher der Hamas von den »60 Jahren« der Besatzung spricht. Das ist ihm nicht einfach so herausgerutscht, es handelt sich vielmehr um den Kern islamistischer Ideologie.
Die moderate Mainstreamlinke ist allerdings nicht derart israelfeindlich. Der Großteil der Linken ist – nicht wie die hysterischen Anti-Israel-Demonstrant_innen mit ihren Transparenten »Holocaust in Gaza« – vor allem über die »Verhältnismäßigkeit« der israelischen Reaktion besorgt. Es ist leicht ersichtlich, dass soetwas schwer auf Transparente zu packen oder zu rufen wäre, weshalb mensch auch keine Demonstrationen zu diesem Thema sieht. Von einer »Koalition zur Verhinderung des unverhältnismäßigen Einsatzes von Gewalt durch Israel« hat bisher noch niemand etwas gehört. Niemand ruft »Israel hat natürlich das Recht sich zu verteidigen, aber diese Antwort muss verhältnismäßig und begrenzt sein.« Nicht gerade einprägsam, oder? Der Hinweis auf die mangelnde Verhältnismäßigkeit geht derart an jeder Realität vorbei, dass er entweder aus der universitären oder der theologischen Sphäre kommen muss – oder aus beiden.
Kehren wir für ein anderes Beispiel nach London zurück. Wir schreiben das Jahr 1944 und die Stadt steht wieder einmal vor einem »Blitz« (einem echten, deutschen »Blitz«, nicht einem israelischen). Dieses Mal kommen die deutschen Bomber nicht durch, aber Hitlers Wissenschaftler_innen haben neue Raketen entwickelt, deren Sprengkraft relativ niedrig ist, sie also nicht viel Schaden anrichten können, die aber alles sind was sie noch aufzubieten haben. Deutschland ist dabei den Krieg zu verlieren, die Alliierten haben die Lufthoheit und alles was die Deutschen tun können ist V-1 Raketen auf London zu schießen. Ungefähr 10.000 dieser Raketen wurden abgefeuert und ein Viertel davon erreichte London. Die Vermutung liegt nahe, dass ein solcher Einschlag von 2400 Raketen in eine dicht bevölkerte urbane Gegend verheerende Folgen hätte. Aber tatsächlich wurden nur 6000 Menschen getötet. Dennoch eine schreckliche Zahl – 6000 unschuldige Leben. Aber für die Assad-Familie in Syrien ist das die Arbeit eines Nachmittags. Saddam tötete fast genauso viele in einem einzigen Giftgasangriff auf Halabja. Die Nazis feuerten die einzige Waffe, die sie hatten und die England erreichen konnte, dem Gegner also auch Verluste beibringen konnte und diese Waffe war nicht effektiv, weil die Deutschen schon geschwächt waren und dabei den Krieg zu verlieren. Was wäre nun eine verhältnismäßige Antwort der Alliierten gewesen? Das ist nicht nur eine dumme Frage, sie ist vollkommen verrückt. Es war mitten im Weltkrieg. Während einem solchen Krieg fragt niemand danach, ob dieser oder jener Angriff eines Gegners diese oder jene Reaktion erfordert. Es gab keine alliierte Reaktion auf die ineffektiven Angriffe mit V1-Raketen. Stattdessen fuhren die Alliierten darin fort, die Nazis zu zerschlagen und den Krieg zu gewinnen. Und mit Sicherheit starben im letzten Kriegsjahr in Deutschland viel mehr Zivilist_innen als in England. Und viele dieser toten Deutschen waren bestimmt auch unschuldige Zivilist_innen, Opfer einer schrecklichen Tragödie, die von ihren eigenen Führern auf die Welt losgelassen wurde. Wenn hier eine Analogie zum zweiten Weltkrieg zu ziehen wäre, dann nicht die übliche linke, die Jüd_innnen zu den neuen Nazis zu machen, die einen Genozid an den wehrlosen und unschuldigen Palästinenser_innen verüben. Eine viel treffendere Analogie wäre der verheerende alliierte Luftangriff, der in den letzten Monaten des Krieges das geschwächte Deutschland traf. Die Qassam-Geschosse sind dann die V1-Raketen der Hamas. Die israelische Luftwaffe ist die RAF. Israel verteidigt sich gegen einen zu keinem Kompromiss bereiten faschistischen Feind und während es völlig legitim ist, die israelischen Taktiken zu diskutieren und darauf zu bestehen, dass die größten Anstrengungen unternommen werden, zivile Leben zu schützen, sollte es einer vernünftigen Linken keine Schwierigkeiten bereiten, klar zu sagen, auf welcher Seite sie steht.
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