Fabriken zu Hüpfburgen!

Während die Londoner Innenstadt anlässlich des G20-Gipfels in einen großen Campingplatz gegen den Kapitalismus verwandelt wurde, griffen Arbeiter in Nordirland und Großbritannien auf das alte Kampfmittel der Fabrikbesetzung zurück.


Zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren haben Arbeiter in Nordirland und Großbritannien die Fa­briken ihrer Arbeitgeber besetzt, die hart von der Wirtschaftskrise getroffen wurden.
Ende März wurde Hunderten von Arbeitern im Visteon-Werk in Belfast – einem Betrieb, der Motorenteile für Ford herstellt – mitgeteilt, dass ihre Firma Insolvenz anmelden werde. Wegen der Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens sollten die Angestellten lediglich die gesetzlich vorgeschriebene Abfindung erhalten.
Damit wollte sich die Belegschaft jedoch nicht zufriedengeben, und so begannen 80 Arbeiter mit der Besetzung des Finaghy-North-Road-Firmen­geländes. Die Arbeiter fühlen sich »betrogen«, so ist es auf ihren Transparenten zu lesen. Sie be­rufen sich auf die Vereinbarungen, die bei der Abspaltung des Subunternehmens Visteon von Ford im Jahr 2000 getroffen wurden, als ihnen weiterhin die Bedingungen von Ford und damit umfassende Abfindungen im Fall einer Firmeninsolvenz garantiert wurden.
Als die Arbeiter der britischen Produktionsstätten Basildon (Essex) und Enfield (im Norden Londons), die ebenfalls geschlossen werden sollen, die Nachricht von der Besetzung in Belfast erhielten, begannen sie ihre eigenen Proteste. Innerhalb von 24 Stunden waren auch in diesen Orten Visteon-Werke besetzt. Während Arbeiter in Basildon die Zufahrt zum Fabrikgelände blockier­ten, erlangten ihre Kollegen in Enfield die Kontrolle über den Großteil der dortigen Fabrik. »Wir werden hier bleiben, so lange es nötig ist«, sagte Carl Benjamin, einer der Arbeiter in Enfield, der seit 14 Jahren für Visteon arbeitet.
In Belfast verbündeten sich Politiker beider Religionen, um die Arbeiter zu unterstützen. Gerry Adams, Parlamentarier der Sinn Fein, setzte sich gemeinsam mit einem Repräsentanten der Protestant Democratic Unionist Party bei der Firmen­leitung für einen Kurswechsel ein. In England droh­ten die Anführer der Gewerkschaft Unite damit, die Auseinandersetzung auch auf die Fabriken von Ford auszuweiten.
Kaum einen Tag nach der Besetzung der Fabrik in Enfield erwirkte die Firmenleitung eine gerichtliche Anordnung und forderte die an der Besetzung beteiligten Arbeiter dazu auf, die Fabrik zu räumen. Das Gelände wurde von Sicherheitskräften umstellt. Gewerkschaftsvertreter sind inzwischen in die USA geflogen, um dort mit dem Management von Visteon über ihr Anliegen zu verhandeln.
In allen drei besetzten Fabriken in Nordirland und Großbritannien bemüht man sich derweil, die Menschen an den jeweiligen Orten für die Interessen der Belegschaft zu sensibilisieren. In der Fabrik in Belfast etwa wurde ein »Familientag« organisiert, einschließlich Hüpfburg, Zauberer und Musik. Eine ähnliche Veranstaltung fand ver­gangene Woche auch in Enfield statt. Die Resonanz ist allerdings nicht gerade überwältigend. Zwar solidarisierten sich Arbeiter aus anderen britischen und irischen Fabriken mit der Belegschaft von Visteon, in Belfast spendeten lokale Landbesitzer sogar Lebensmittel. An der Solidaritätsdemonstration, die vergangene Woche vor den Werkstoren in Belfast stattfand, nahmen allerdings nicht mehr als 150 Leute teil, dabei waren Tausende erwartet worden.
Auch die Medienresonanz fiel gering aus. Die Proteste gegen den G20-Gipfel monopolisierten die Aufmerksamkeit der britischen und internationalen Medien, schließlich sollte am 1. April der befürchtete »summer of rage« beginnen, wie der britische Geheimdienst Wochen zuvor vorausgesagt hatte. Die Demonstranten in London interessierten sich mehr für Banker im Anzug als für die Besetzer in den Fabriken. Die Arbeiter in Belfast, Basildon und Enfield ihrerseits kümmerten die Proteste gegen den Weltfinanzgipfel herzlich wenig.
Die andauernden Besetzungen der Visteon-Werke zeigen eine neue Militanz der britischen Gewerkschaften und gleichzeitig einen Rückgriff auf eine alte Taktik. Die Besetzungen erinnern an die Arbeitskämpfe vor 20 Jahren, als das Werksgelände der Caterpillar-Traktorfertigung bei Glasgow für 103 Tage besetzt gehalten wurde. Damals konnte die Schließung allerdings nicht verhindert werden.
Die bis heute berühmteste und erfolgreichste Fabrikbesetzung fand aber bereits im Jahr 1971 statt, ebenfalls in Glasgow. Damals sorgte ein »Work-in« der Upper Clyde Shipbuilders für großes öffentliches Aufsehen. Sogar John Lennon spendete damals öffentlichkeitswirksam für die Streikenden. Die Werft wurde gerettet – zumindest vorläufig.
Das Problem der derzeitigen Werksbesetzungen in Belfast und Nordlondon ist, dass die Arbeiter die Kontrolle über Fabriken erkämpft haben, für die sich niemand interessiert. Als die Autoarbeiter in Detroit in den dreißiger Jahren ihre ersten großen Sit-ins veranstalteten, erlangten sie die Kontrolle über Produktionsmittel, die für ihre Be­sitzer noch einen Wert besaßen. Dies verschaff­te den Arbeitern ein wichtiges Druckmittel, um die großen US-amerikanischen Autounternehmen, einschließlich Ford, zu zwingen, ihre Gewerkschaft (die United Auto Workers) anzuerkennen.
Anders verhält es sich heute mit den Arbeitern von Visteon. Sie verfügen nicht über ein solches Druckmittel, und ihre Forderungen verblassen im Vergleich zu denen ihrer Vorgänger von vor siebzig Jahren. Anstatt nach gut bezahlten Jobs zu verlangen, fordern sie lediglich die Abfindungen, die Ford und Visteon ihnen vor neun Jahren versprochen haben.
Die Arbeiter sind sich jedoch bewusst, dass sie selbst damit weiterhin auf eine schwierige Zukunft zusteuern in einer Gesellschaft, in der Arbeitsplätze schwer zu bekommen sind.
Anders als bei den Sit-ins in Glasgow in den siebziger und achtziger Jahren, kämpfen die Arbeiter bei Visteon nicht für das Weiterbestehen der Firma. Ihre Gewerkschaft Unite wirkt ohnmäch­tig angesichts der Lage, obwohl sie die größte Gewerkschaft Großbritanniens ist. Der Generalsekretär, Derek Simpson, konnte ein Treffen mit dem Vorstandsvorsitzenden von Ford Europa, John Flemming, arrangieren und erklärte ihm, dass Ford eine »moralische Verantwortung« für seine Angestellten habe. Flemming versprach, die Angelegenheit mit dem Management von Vis­teon in den USA zu besprechen.
Als bei den Arbeitskämpfen der dreißiger Jahre erkämpft wurde, dass Unternehmen wie Ford die Gewerkschafen anerkennen mußten, geschah dies jedoch nicht durch die Überzeugungskraft einer »moralischen Verpflichtung« des Managements für die Arbeiter.
Die Taktik der Sit-ins war eben deshalb so effektiv, weil Fords Geschäfte trotz der großen Depression gut gingen und die Fabriken daher am Laufen gehalten werden mussten. Trotz der ober­flächlichen Ähnlichkeiten mit den Arbeitskämpfen der dreißiger oder auch der siebziger Jahre scheinen die derzeitigen Besetzungen in Nordirland und Großbritannien kaum mehr als ein Akt der Verzweiflung zu sein.
Aus dem Englischen von Isabel Teusch